Theodor Dierk Petzold 

Herr Scholz, der neue Bundeskanzler, hat angekündigt, Generalmajor Breuer zum Chef des Corona-Krisenstabs zu ernennen. Als Afghanistan erfahrener, hochdekorierter Offizier soll er Deutschland zum Sieg über Corona führen.
Bislang war ich als Arzt – wie wohl auch viele meiner Kolleginnen (1) und andere Menschen – davon ausgegangen, dass der Umgang mit dem Covid-19-Virus eine ärztliche oder zumindest eine medizinische Aufgabe sei. Herr Scholz setzt mehr aufs Militärische. Mir geht es hier nicht darum, die neue Regierung zu kritisieren. Es geht mir darum zu reflektieren, was gerade Stand in der Medizin und dem Gesundheitswesen ist. Ist der erfolgreiche Umgang mit einer pandemischen Virus-Erkrankung tatsächlich eine Kriegsführung, wie es nicht selten formuliert wurde? (2) Ist „Kampf gegen Viren“ der ‚State of the Art‘ in der Medizin heute? Oder ist das eine Bankrotterklärung ärztlichen Denkens und Handelns? Was ist gut für unsere gesunde Entwicklung?

Denkweisen – Paradigma – in der Medizin und Gesellschaft
Die moderne Medizin führt schon mindestens seit 150 Jahren einen Kampf gegen Krankheiten und deren vermeintliche Ursachen. Das pathogenetische Denkmuster (=Paradigma) ist schon vor 50 Jahren von dem Psychoonkologen Lawrence LeShan in New York klar beschrieben worden (3): Die Krankheit diagnostizieren, dann eine Ursache finden und letztlich dies bekämpfen. Erst sekundär wird nach dem Menschen geschaut: Was ist aus ihm geworden, nachdem die Krankheit bekämpft wurde? Mit dieser Vorgehensweise wird nicht nur vielen Menschen geholfen, sondern auch viel Schaden angerichtet. In den USA sind die Kollateralschäden (sog. Nebenwirkungen) von medizinischen Therapien die dritthäufigste Todesursache (4). Wenn wir die Umweltschäden durch die moderne High-Tech-Medizin in die Kollateralschäden miteinbeziehen, sieht die Bilanz womöglich noch schlechter aus. Seit 2014 ist die Lebenserwartung in vielen großen Industrienationen rückläufig (5).
Angesichts der SARS-Erkrankung wurde der Feind, das Virus Covid-19, schnell von Virologen identifiziert und der Kampf im Labor geprobt. Für den Kampf gegen das Virus im Volk wurden von der Politik noch EpidemiologInnen und Mathematiker zur Beratung bei der Strategieplanung dazu geholt. Ärztinnen sollten dann in Kliniken den Kampf gegen das Virus in den Menschen weiterführen. Mit im Labor entwickelten Impfungen soll fortan das körpereigene Abwehrsystem auf das Virus programmiert werden. Epidemiologinnen und Mathematikerinnen stellten Hochrechnungen über die Verläufe der Infektionswellen und einen Kollaps der Krankenhäuser bzw. den Sieg über das Virus auf. Welche Rolle die Menschen selbst mit ihrem Immunsystem, ihrer Selbstfürsorge und ihre zweckmäßige Kooperation untereinander nach angemessener Aufklärung darin spielten, wurde in den Statistiken nicht transparent. Ihre eigenen Gesundheitsziele sowie ihre Fähigkeiten und anderen Ressourcen, ihre Ziele zu erreichen – ihre Gesundheitskompetenz – waren nicht gefragt. Die mathematischen Berechnungen, die schlimmst möglichen Katastrophenszenarien und die Kampfmaßnahmen der Regierung bestimmten und bestimmen immer noch die öffentliche Diskussion und machen Angst – anscheinend zum großen Teil gewollt.
„Ich fühle mich so, als würde ich in den Krieg geschickt – aber man nimmt mir jede Waffe weg.“ Dr. Christian Franz, Hausarzt, weil er zu wenig Impfdosen erhalten hat (Welt Nachrichtensender; 8.4.2021).
Eine Durchimpfung sei der einzige Weg, das Virus zu besiegen. Ich befürworte Impfungen, allerdings mit einer strengen Indikationsstellung und freiwillig, wie es für alle invasiven Interventionen in der Medizin erforderlich ist. Und es braucht eine kooperative Haltung der impfenden Ärztinnen: Eine Impfung ist kein Kampfinstrument gegen das Virus im Menschen. Die Impfung soll das Immunsystem des Geimpften derart anregen, dass es das Virus schneller erkennen und seinen Eintritt in Zellen verhindern und es womöglich isolieren kann. Unter Drohung kann eine dienliche Kooperation mit dem Patienten kaum zustande kommen.

Gesundheitsorientierte Kooperation
Leshan hat dieses Denkmuster nicht nur klar benannt und kritisiert, sondern auch konsequent salutogenetisch orientiert erneuert. Er ist primär der Frage nachgegangen, was gesund am Patienten ist und hat dann mit ihm gemeinsam geschaut, was dieser und ggf. auch die professionellen HelferInnen tun können, damit es ihm besser geht. In der Folge waren die Therapien erheblich erfolgreicher (s. FN 2). Es kam zu einer menschlich partnerschaftlichen Kooperation zwischen Therapeut und Patient, weil sie mit einer gemeinsamen Intentionalität gemeinsam am gleichen Ziel arbeiteten (vgl. Tomasello 2010 (6)). Können wir daraus etwas für den Umgang mit Covid-19 lernen?

Wie könnte ein salutogenetisch orientierter Umgang mit einer derartigen Bedrohung aussehen?
Zu Beginn einer derartigen viralen Bedrohungslage ist eine schnelle Aufklärung und Warnung der Menschen vor der möglichen Gefahr sicher angebracht. Also so, wie wir das im Februar/März 2020 im Ansatz erlebt haben, solange man noch nichts Genaueres wusste. Allerdings wäre schon da der Fokus einer salutogenen Gesundheitskommunikation ganz stark auf der Ermächtigung der Bürgerinnen gerichtet, darauf, was die Menschen selbst tun können, um Ansteckung zu vermeiden und ihr Immunsystem zu stärken. Dazu gehört außer Abstand halten und in Räumen Lüften und in engen Situationen Masken tragen, mit Sicherheit Bewegung an der frischen Luft. Es ist zum ersten entscheidend, dass Menschen nicht derart mit dem Virus kooperieren, dass sie ihm die Möglichkeit geben, von einem zum nächsten zu kommen. Zum anderen ist das Immunsystem des Menschen wichtig, das das Virus an der Vermehrung im Körper hindert.

In vier Wochen von einer Inzidenz von fast 10.000 auf Null
Dabei ist das Verhalten ganz entscheidend für den Verlauf der Verbreitung des Virus. Freunde berichteten mir von einem Dorf mit etwa 500 Einwohnerinnen im Oktober 2021, von denen ein im Vergleich mit dem Bundesdurchschnitt vermutlich relativ hoher Anteil der unter 65-Jährigen nicht geimpft war. Dort gab es eine Welle mit einer 7-Tage-Inzidenz von fast 10.000 auf das Dorf berechnet. Nach dem Schreck verhielten sich alle kooperativ angemessen vorsichtig, sodass innerhalb von vier Wochen die Inzidenz schon wieder bei null war. Wenn das Virus keinen Überträger und keinen Wirt findet, zerfällt es – ganz ohne Kampf. Nicht mit dem Virus zu kooperieren bedeutet, mit Menschen überwiegend auf Distanz zu kommunizieren. Das ist sicher für einige eine große Herausforderung – besonders für jüngere Menschen. Sie brauchen verständnisvolle Unterstützung dabei. Aber in einsichtsvoller gemeinschaftlicher Kooperation kann diese anscheinend gut gemeistert werden. Menschen sind außer mit einem physischen Immunsystem anscheinend auch mit einem antiinfektiösen sozialen Verhaltensmuster ausgestattet, das durch zutreffende ggf. auch verbale Information aktiviert werden kann – analog wie das physische Immunsystem durch biomolekulare Information aktiviert wird.

Mehrdimensionale Zusammenhänge von gesunder Entwicklung und Krankheitsentstehung
In einer salutogenetisch orientierten Medizin sehen wir eine Erkrankung in einem komplexen Entwicklungszusammenhang des Menschen, in seinen physisch-sozio-kulturell-global-geistigen Beziehungen, in seiner mehrdimensionalen Selbstregulation. Dann erscheint z.B. die Corona-Pandemie vielmehr als eine „Syndemie“, wie R. Horton (7), der Chefherausgeber von Lancet sie nennt, also ein verbreitetes synergistisches Zusammenwirken von pathogenen Faktoren: Viren, genetische Disposition, Vorerkrankungen, Lebensstil, sozial-ökonomische Bedingungen, soziale Verhaltensweisen, politische Maßnahmen und womöglich noch globale Umweltzerstörung führen zusammen zu schweren Erkrankungen. Ebenso und noch mehr entwickeln Menschen sich in diesen mehrdimensionalen Zusammenhängen gesund (s. Ottawa-Charta 1986).
In diesem mehrdimensionalen Verstehen kooperieren wir als Gesundheitsprofis mit den Menschen in ihrem individuellen, sozialen, ökonomischen und kulturellen wie auch global-geistigen Streben nach gesunder Entwicklung. Wir teilen unser Wissen und hören den Menschen zu, was ihnen bedeutsam in Bezug auf Gesundheit und Corona ist. Damit stärken wir ihre Autonomie, wie sie in der Genfer Deklaration 2017 vom Weltärztebund (8) zurecht ganz obenan gestellt wird. Wir gehen auf ihre Ziele, Bedürfnisse und Ressourcen ein, suchen eine gemeinsame Intentionalität, klären die Rollen in der Kooperation und helfen den Partnerinnen, wenn sie ihren Job nicht so machen können, wie geplant (9).
In einer solchen ärztlich therapeutischen Herangehensweise gibt es keinen Krieg gegen Corona (10), sondern eine Kooperation zur gesunden Entwicklung, zum gemeinsamen Lernen im Umgang mit Infektionsgefahren und zur Stärkung und Ermächtigung der Individuen und Gemeinschaften und auch der Nation, Kultur und der ganzen Menschheit. Da kann es auch Impfungen geben, wenn der Nutzen und das Risiko gut abgewogen sind. Da gibt es leider auch hier und da Schmerz und Leid durch die Erkrankungen aber keine bzw. wenig selbst verursachte Kollateralschäden.

[1] Um den Geschlechtern in der Sprache halbwegs gerecht zu werden, ohne den Schreib- und Lesefluss zu sehr zu verkomplizieren, verwende ich im Weiteren im Singular entsprechend der bislang üblichen Schreibweise die männliche Form, es sei denn, es handelt sich explizit um eine Frau, und im Plural immer die weibliche Form, es sei denn, es handelt sich ausschließlich um Männer.

[2] „Sars-CoV-2 ist unser gemeinsamer Feind. Wir müssen diesem Virus den Krieg erklären. Das bedeutet, dass die Länder die Verantwortung haben, mehr zu tun, sich zu rüsten und sich zu verstärken.“ (António Guterres in einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung, 15.03.2020)

[3] LeShan L, Büntig W (2010), Die Melodie des eigenen Lebens finden. Interview auf DVD. Müllheim: Auditorium.

[4] Ärzteblatt (2016) https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/66550/US-Studie-Medizinische-Irrtuemer-dritthaeufigste-Todesursache (Abruf 10.05.2021).

[5] Ho J Y, Hendi A S (2018) Recent trends in life expectancy across high income countries: retrospective observational study. In:  BMJ 2018;362:k2562 | doi: 10.1136/bmj.k2562. Moody’s Analytics (2019), The economic consequences of millennial health 6.11.2019 Health of America. https://www.bcbs.com/sites/default/files/file-attachments/health-of-america-report/HOA-Moodys-Millennial-10-30.pdf  (abgerufen 10.11.2020).

[6] Tomasello M (2010), Warum wir kooperieren. Berlin: Suhrkamp.

[7] Horton, Richard: COVID-19 is not a pandemic. richard.horton@lancet.com  http://www.thelancet.com Vol 396 September 26, 2020; S. 874 (R. Horton ist Herausgeber (editor-in-chief) von Lancet)

[8] Vgl. a. Ottawa-Charta der WHO von 1986 und Genfer Deklaration des Weltärztebundes 2018;

[9] S. Kriterien menschlicher Kooperation bei: Tomasello M, Hamann K (2012), Kooperation bei Kleinkindern. https://www.mpg.de/4658054/Kooperation_bei_Kleinkindern. (Abruf 10.02.2016). s.a. Petzold TD (2021a) Drei entscheidende Fragen – Salutogene Kommunikation zur gesunden Entwicklung. Und (2021b) Schöpferisch kommunizieren – Aufbruch in eine neue Dimension des Denkens. Bad Gandersheim: Verlag Gesunde Entwicklung.

[10] S.a. Petzold TD: https://gesunde-entwicklung.com/globale-ethik-zur-kooperation/