[i] Meine grundlegende These für eine ganzheitliche und systemische Psychologie lautet, dass Menschen ein tiefes Bedürfnis und Streben nach Kohärenz haben und dies maßgeblich ist für ihre übergeordnete Motivation.

Was bedeuten Kohärenz und Motivation?

Kohärenz, engl. coherence, bedeutet Stimmigkeit, stimmige Verbundenheit, Passung, Übereinstimmung, auch Zusammenhalt eines Systems. Gelegentlich werden auch ähnliche Worte wie z.B. Kongruenz, Konsistenz, Harmonie oder Gleichklang zur Beschreibung von Kohärenz-Phänomenen verwendet.

Motivation bezeichnet alles, was uns in Bewegung bringt. Meistens wird der Begriff verwendet, wenn es um äußerlich sichtbares und engagiertes Verhalten geht. Genau genommen betrifft es aber auch alle inneren Aktivitäten, die untrennbar mit äußeren verknüpft sind. Jede Bewegung erfordert aktive innere Veränderungen. Sogar bei jedem Gedanken sind Aktivitäten im Gehirn festzustellen. Auch diese Aktivitäten wie Gedanken und Gefühle sind Folge einer Veranlassung, einer Motivation.

Kohärenzmotivation übergeordnet im Mittelpunkt

So sprechen wir von einer Kohärenzmotivation bei Allem, was uns zu Aktivitäten in Richtung Kohärenz im Inneren und im Außen veranlasst.

Kohärenz im Inneren

Wenn wir ein Gefühl von Kohärenz, von stimmiger Verbundenheit erleben, ist dies verknüpft mit Wohlbefinden, Freude und Glück, auch mit Gelassenheit und Ruhe.

Auch Klaus Grawe, als „Pabst der Psychotherapieforschung“ bezeichnet und Begründer der Neuropsychotherapie, schreibt 2004, dass Stimmigkeitsregulation das übergeordnete Prinzip psychischen Geschehens ist.

Was heißt Stimmungsregulation? In vielen Einzelforschungen zeigen Ergebnisse, dass ein Erleben von Kohärenz (Passung, Harmonie usw.) Wohlbefinden und Gesundheit fördern. Der Medizinsoziologe und Stressforscher Aaron Antonovsky, der Begründer der Salutogenese, hat das Kohärenzgefühl, den sense of coherence in den Mittelpunkt seiner Gesundheitstheorie gestellt. Manche psychologische ForscherInnen beschreiben eine vertikale Kohärenz als Übereinstimmung zwischen inneren Idealbildern vom eigenen Dasein mit der gefühlten Realität als gesundheitsförderlich. Das bedeutet, dass unser Fühlen und Handeln möglichst kohärent z.B. mit unseren Moralvorstellungen ist. Z.B. auch, dass unser Denken über gute Eltern-Kind-Beziehungen übereinstimmt mit unseren Emotionen und Verhalten unseren Kindern gegenüber. Der Organismus strebt tief nach Kohärenz möglichst all seiner Erfahrungen, seiner Ich-Zustände und -Dimensionen.

Kohärenz im Außen – Zugehörigkeit in Lebensdimensionen

In Bezug auf kohärente Beziehungen im Außen ist es hilfreich, vier Lebensdimensionen zu unterscheiden. Kohärente Beziehungen zu unserer natürlichen und lebendigen Umwelt werden von den meisten Menschen unbewusst und implizit reguliert und werden nur dann bewusst, wenn sie grob gestört werden. In den großen Städten der hochindustrialisierten Länder zum Beispiel haben viele Menschen schon von Kindheit an kaum direkte Beziehungen zur lebendigen Umwelt[ii]. So können sie nur schwer spüren, wenn diese gestört sind und leider noch weniger, wie diese gut gestaltet werden und sich kohärent anfühlen können.

Für die meisten Menschen werden die nahen privaten Beziehungen in Familie und Freundschaften zunehmend bewusst. Unsere Kohärenzmotivation strebt danach, diese entsprechend einem inneren Idealbild von Familie, Liebe und Freundschaft aufbauend für alle mitzugestalten. Die Realität entspricht meist nicht unserem oft unbestimmten Idealbild.

Inkohärenzen in der Realität und weitere Grundmotivationen

Sie zeigt eher mehrere Inkohärenzen, wenn z.B. einer das Gefühl hat, nicht genug zu bekommen oder das nicht machen darf, was er gerne möchte, oder jemand erkrankt. Dieses sind Herausforderungen für unsere Kohärenzmotivation. Dabei kommen weitere Grundmotivationen ins Spiel wie die über Dopamin regulierte Appetenz-/Annäherungsmotivation, um sich lustvoll verlockenden Zielen anzunähern, und die stressende Aversions-/Abwendungsmotivation, die angesichts von Bedrohungen für Sicherheit sorgen soll. Was die Kohärenzmotivation angeht, so ist es für Kinder besonders – sogar existentiell – wichtig, gefühlt zur Familie dazuzugehören. Aus dieser Kohärenzmotivation heraus machen sie ihren Eltern vieles nach und verteidigen diese gegen äußere Kritik. Bei einem Gefühl, dass diese Zugehörigkeit bedroht ist, wird ihre Aversionsmotivation aktiviert.

blankDie komplette Tabelle und vollständige Beschreibung der Grundmotivationen finden Sie in Petzold & Henke[iii].

Zugehörigkeit zu größeren Lebensdimensionen

Für Jugendliche und Erwachsene wird zunehmend wichtig, dass sie zum Leben in der Sprache, zur Kultur, dazu gehören. Das veranlasst sie, sich Normen und Werten der Kultur anzupassen. Das beginnt schon bei Kindern im Alter von etwa vier Jahren, wie Michael Tomasello in seinen Grundlagenforschungen zur Kooperation beobachtet hat. Die Kohärenzmotivation zur Zugehörigkeit in der Kultur wird über die Zugehörigkeit zur Familie gebahnt, wo auch die Sprache gelernt wird. So übernehmen Kinder häufig auch die Einstellung der Eltern zur Kultur und deren Instanzen/Institutionen. Die Zugehörigkeitsmotivation zur Kultur veranlasst auch das Erlernen von Kulturtechniken wie auch eines Berufes. Erst sekundär kommt die Appetenzmotivation ins Spiel, die über Belohnung wie z.B. einen hohen Lohn angeregt wird. Primär und nachhaltig ist die Sinnmotivation maßgeblich. Sekundär kann auch eine Aversionsmotivation zur Vermeidung von Armut und Ausgeschlossensein ins Spiel kommen, wenn Eltern, PädagogInnen oder andere Institutionen mit der Peitsche drohen: „Wenn du keinen Beruf lernst, bekommst du auch keine Frau!“ „… wirst du in der Gosse landen!“ u.Ä. Derartige Drohungen wie auch kränkende Erlebnisse in kulturellen Institutionen oder starke Inkohärenzen der Sprache, Werte und Normen mit den eigenen Bedürfnissen können zu einer Aversion gegen die herrschende Kultur führen.

Heute wird das Bewusstsein über eine noch größere Lebensdimension immer stärker: Wir gehören alle zur Menschheit und zur Biosphäre. Ob wir wollen oder nicht. Wir sind Teile dieser Lebensdimension. Wenn wir uns gegen sie stellen, zerstören wir unsere eigene Lebensgrundlage und die unserer Mitmenschen. Diese globale Zugehörigkeit erfordert ein neues erweitertes Bewusstsein zur Kohärenz. Der erste Schritt, den unsere Kohärenzmotivation dabei machen will, ist, diese Zugehörigkeit anzunehmen, nicht zu leugnen und nicht sich, eine Nation oder eine Organisation als Teil über das Ganze, über die Menschheit und Biosphäre zu stellen.

Zusammengefasst: Eine ganzheitliche und systemische Psychologie sieht den Menschen motiviert in stimmiger Verbundenheit in seiner individuellen Ganzheit, mit seinen Mitmenschen, seiner Kultur, der Menschheit und der Natur bis hin zur Biosphäre.

[i] Henri Matisse 1909-1910: La-danse

[ii] S. a. Schiffer E (2023) Warum Huckleberry Finn nicht süchtig wurde. Anstiftung zu Lebensfreude von Kindern und Jugendlichen im kokreativen Zusammenspiel. Bad Gandersheim: Verlag Gesunde Entwicklung.

[iii] Petzold TD & Henke A (2023) Motivation. Grundlegendes für ein gelingendes Leben. Bad Gandersheim: Verlag Gesunde Entwicklung.

0 Kommentare

Hinterlasse ein Kommentar

An der Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns deinen Kommentar!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert