9. Symposium zur Salutogenese in Heckenbeck/Bad Gandersheim
Verfügbare Videoaufzeichnungen vom 1. Mai 2015:
GEN Deutschland – Netzwerk der Gemeinschaften e.V.: M. Tacke und Th. Waldhubel: https://www.youtube.com/watch?v=090ZCoz2KqY
Theodor Dierk Petzold: https://www.youtube.com/watch?v=xBzxhDRIUq8
Dr. Eckhard Schiffer: https://www.youtube.com/watch?v=fkUHZN_CJOc&feature=youtu.be
ZEGG: B. Klein und G. Lohmann: https://www.youtube.com/watch?v=AbUJSmDdSwU
Diskussions-Forum: https://www.youtube.com/watch?v=vyUvy54jaNA
Hier geht es zum Heckenbeck-Film „Lust auf Dorf“, der auf ARD am 4. März 2016 ausgestrahlt wurde und in der Mediathek verfügbar ist: Viel Freude!
Gemeinschaftsleben und Salutogenese war das Thema beim 9. Symposium für Salutogenese vom 1.-3. Mai 2015, dass das Salutogenese-Zentrum zusammen mit der Weltbühne und der Freien Schule in Heckenbeck organisiert hatte. Das kleine Dorf nahe Bad Gandersheim bietet sich als Anschauungsobjekt einer salutogenen Alternative zur gesellschaftlichen Vereinzelung an, erläuterte der Leiter des Salutogenese-Zentrums, der Arzt Theodor Dierk Petzold, der die Gemeinschaftsinitiative vor rund 30 Jahren angestoßen hatte. Der 480 Einwohner starke Ort weist heute ein reges Gemeinschaftsleben auf, verfügt über eine vielschichtige Infrastruktur bei Medizin, Bildung und Kultur und kann einen stetigen Zuzug junger Familien verbuchen. „Einen Hoffnungsschimmer“ nannte die Ortsvorsteherin Ricarda Polzin in ihrer Begrüßung deshalb Heckenbeck.
Gemeinschaften seien angesichts der Individualisierung und der Ökonomisierung aller Lebensbereiche unverzichtbar für eine gesunde Entwicklung, betonte auch der Arzt Dr. med. Eckhard Schiffer. Der Mangel an leibhaftiger Begegnung mache einsam und sei ein pathogener Faktor. Der direkte Austausch zwischen Menschen bilde deshalb den Kern einer salutogenen sozialen Gemeinschaft, dessen Bedeutung er anhand des Konzepts der intermediären Räume herausarbeitete: Zwischenräume zwischen innerer und äußerer Welt, die man nur in der direkten Begegnung erleben könne. Hier gäbe es keinen Ergebniszwang, kein Versagen, und jedes Individuum wird als Mensch angenommen.
Wege zu salutogenen Gemeinschaften
Die gut 150 Teilnehmer des Symposiums lernten verschiedene Wege zu salutogenen Gemeinschaften kennen, z.B. Ökodörfer, die dem Global Ecovillage Network (GEN) angeschlossen sind. Konkret vorgestellt wurden Beispiele aus dem Lebensgarten Steyerberg e.V. Niedersachsen, der Gemeinschaft Schloss Tempelhof eG im württembergischen Kreßberg, dem ZEGG (Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung) in Bad Belzig südwestlich von Berlin sowie selbstbestimmten Projekten in der Burg Lutter am Fuße des Harzgebirges und im Olgashof in Mecklenburg-Vorpommern. Gewürdigt wurden auch informelle Gemeinschaften, die Kommunikation und Begegnung in den Mittelpunkt rücken, wie etwa die Nachbarschaftsinitiative Feriendorf im niedersächsischen Quakenbrück, die den Bewohnern die Erfahrung vermitteln konnte, wahrgenommen und nicht alleingelassen zu werden. Die Gesundheitsabsicherung Solidago wiederum kombiniert Solidarität bei der Einlagengestaltung und Risikoberechnung sowie freie Therapiewahl mit regelmäßigen persönlichen Begegnungen der Versichertengemeinschaft in den lokalen Gruppen.
Viele Projekte wurden von einzelnen oder mehreren Personen initiiert. „Wenn das Bedürfnis nach Gemeinschaft in der herrschenden Kultur nicht zu befriedigen ist, werden neue Gemeinschaften gegründet“, so Petzold. Entwickeln könnten sie sich aber nur in Selbstorganisation rund um ein attraktives Ziel (‚Attraktor‘), wie das menschliche Grundbedürfnis nach Zugehörigkeit. Dabei müsse jedes Mitglied so leben können, dass es wohltuend ist.
Die vorgestellten Initiativen sind soziale Gemeinschaften, in denen Menschen in der persönlichen Begegnung direkt kommunizieren (überwiegend paraverbal), und zugleich kulturelle Gemeinschaften, die zum funktionierenden Zusammenleben auch explizite Regeln und Bedingungen sowie vermittelte Kommunikation (etwa E-Mails) verwenden. Allerdings werden diese Bedingungen immer wieder überprüft und verhandelt: Was ist für den Einzelnen salutogen? Welche Regeln fühlen sich in der Gemeinschaft stimmig an? Dieses Stimmigkeitsgefühl wird auch in Resonanz mit einer globalen Dimension gewonnen.
Das Symposiumsprogramm bot zahlreiche – auch nichtsprachliche – Zugänge zu dieser Dimension an, vor allem die rahmenden Kreistänze unter Anleitung von Dr. med. Sabine Olbrich, weiter Klang- und Heil-Wort-Meditation, schöpferischen Einsatz des Atems, Mantra-Singen, geführte Klangspaziergänge oder eine „Reise zur Ursprungsgemeinschaft unserer Seele“. Eine Annäherung über „Imagination, Intuition und Inspiration“ offerierte ein Workshop auf Grundlage des „Earth Forums“. Weitere Themen waren in diesem Kontext Gedichte zur Psychosozialbindung, die Rolle der Erzählkunst beim sozialen Zusammenhalt und der Humor, der u.a. beim Lachyoga und dem von der Schauspielerin und Kabarettistin Elisabeth Möller moderierten Gemeinschaftsabend seinen Platz fand. Nach den Sessions versammelten sich die Teilnehmer immer wieder in Clans – kleinen Gruppen, in denen sie das Erlebte nachfühlen, reflektieren und verarbeiten konnten.
Wirkungen des Gemeinschaftslebens
Was bewirken salutogene Gemeinschaften? Die Einübung der Balance von Ich und Wir war eines der meistgenannten Themen. Durchweg wurde von einem größeren Generationenbewusstsein berichtet. Alter und Tod werden wieder stärker in das tägliche Leben integriert. Immer wieder hoben ReferentInnen die Erfahrung hervor, gemeinsam nach außen und innen zu gestalten, Neues, Sinnhaftes in die Welt zu bringen, was als Gegengewicht zu Ohnmacht produzierenden Strukturen der individualisierenden Gesellschaft begriffen wurde. Auch bestehende Institutionen lassen sich verändern, z.B. durch balanceorientierte Führungskulturen, die Dr. med. Ellis Huber, Prof. Dr. Bernd Fittkau und Dorothée Remmler-Bellen mit den Teilnehmern erarbeiteten. Das Symposium beleuchtete auch Konflikte und Gefahren in Gemeinschaften, etwa die Neigung zur Überforderung bis hin zum Burnout. Gemeinschaften können sogar pathogen wirken, wenn nicht Balance, sondern Polarisierung vorherrscht, sie einer oktroyierten Moral oder Ideologie dienen und Autonomie der Individuen sowie Selbstregulation missachten.
Am dritten Tag widmete sich der Religionswissenschaftler Florian Jeserich, anhand der zwölf Ordensregeln des Benedikt von Nursia aus dem frühen 6. Jahrhundert, der Frage, ob eine gesunde Gemeinschaft spirituelle Regeln brauche. Er arbeitete die salutogenen und pathogenen Anteile dieser Regeln klar heraus.
In einem Fishbowl-Forum am Ende des Symposiums diskutierten die Teilnehmer ihre Erlebnisse in den Clan-Treffen und zogen ein Resümee: „Clans sind Gemeinschaftserfahrung – das ist etwas anderes als Theorie, das ist eine andere Ebene. Wie können wir dieses Gemeinschaftserleben kultivieren? Vielleicht, indem wir viele Räume für den Austausch in kleinen Gruppen schaffen.“ [Rolf Bastian]
Die Langfassung des Symposiumsberichtes finden Sie hier.
Sie können die Berichte gerne weiter verwenden.