Wahrscheinlich kennt das jeder*: In einem Team oder auch bei privaten Treffen wird andauernd über negative Erfahrungen und Umstände gesprochen. Diese sind heutzutage im krisenhaften Übergang überall gegenwärtig. Je nach Fachrichtung oder Interesse betrifft es mehr die Umwelt, die stressenden Bedingungen in der Schule, die Bürokratie und die Profitorientierung im Gesundheitswesen, die Kriege und Berichterstattungen in den Massenmedien oder sonst etwas. In Expertenteams werden dann gerne mögliche Ursachen analysiert, um die vermeintlichen Ursachen des Übels auszumerzen … wie das Wirtschaftssystem, die Religion, den Materialismus oder die menschliche Unvollkommenheit. Bei konsequenter Ursachenforschung würde man letztlich beim Urknall oder einem Schöpfungsfehler Gottes landen.
Das Ergebnis solcher Gespräche ist auf der einen Seite: Wir sind uns in der Beurteilung der katastrophalen Lage ziemlich einig. Das ist ganz angenehm, weil man sich nicht mehr so alleine fühlt. Allerdings geht es bei der Ursachenbenennung oft auseinander, vermutlich weil unter Expertinnen jeder der rechthabende Richter bzw. beste Retter sein möchte und einen anderen geistigen oder ideologischen Hintergrund hat. Auf der anderen Seite vertieft sich ein Gefühl von Ohnmacht – auch kollektiv: Wir sind alle machtlose Opfer. Es gibt – gefühlt – keine Möglichkeit, etwas wirklich zu verändern. Ausweglosigkeit, Machlosigkeit und Hoffnungslosigkeit machen sich breit.
Die innere Wende zu einer neuen Frage
Wenn man diese negativen Kommunikationsmuster oft genug erfahren hat und sein Mitgestaltungspotential und auch das der Gruppe entfalten möchte, gibt es mehrere Möglichkeiten, sich selbst und die Kommunikation zum Konstruktiven zu wenden.
Anstatt auf eine rechthaberische Diskussion über vermeintliche Ursachen der Missstände einzusteigen, geht man den Fragen nach:
- Was ist mein eigentliches Mitgestaltungsanliegen in dieser Gruppe?
- Wo will ich hin?
- Was ist das Gestaltungsanliegen der Gruppe, ihr Ziel?
Ihre Antwort auf diese Fragen können Sie z.B. als Wunsch in das Gruppengespräch einbringen: „Ich bin hier, weil ich mit euch zusammen bessere Lernorte für Kinder gestalten möchte (bzw. Genesungsorte für Erkrankte). Ich möchte mit euch darüber sprechen, wie diese aussehen können und was unsere Rolle darin ist.“
Die Frage nach dem Anliegen, auch Ziel, Wunsch oder Bedürfnis, bildet den Kern einer heuristischen Vorgehensweise: von der antizipierten Lösung her den Annäherungsweg gestalten.
Ein neuer Ziel-Fokus verändert die Kommunikation
Unter der Perspektive eines gewünschten antizipierten Lebensvollzugs, wie einem guten Leben für möglichst Alle, erscheinen die aktuellen Probleme und deren Lösung in einem ganz anderen Licht. Da stehen dann womöglich die Selbstwirksamkeit und Autonomie in natürlicher und soziokultureller Verbundenheit an der ersten Stelle der Motive. Wie können wir selbst wirksam werden zusammen mit unseren Mitmenschen und in Übereinstimmung mit der Natur? Welche Rollen kommen dabei kulturellen Institutionen und der Ökonomie zu, um das gute Leben möglichst Aller zu entfalten?
Konkret können wir in unseren Teams und anderen Gruppen unser Gestaltungsanliegen beispielsweise so äußern: „Ich würde in unserer Gruppe gerne über ein konkretes Projekt sprechen, das für Kinder neue Lernerfahrungen ermöglicht.“
Anliegen und Bedürfnisse kommunizieren
Je nach Gruppe und Kommunikationspartnerinnen kann es auch angebracht sein, noch direkter sein eigenes Bedürfnis in und für die Gruppe mitzuteilen, also z.B.: „Ich möchte meine Ideen für eine Schule der Zukunft mit Euch teilen.“ Oder „Ich wünsche mir, dass wir eine Runde dazu machen, wie jeder sich die Rolle von Patientinnen und Ärztinnen in einem zukünftigen Gesundheitswesen vorstellt.“ Oder: „Ich wünsche mir jetzt eine kurze Achtsamkeits-/Besinnungspause, in der jeder für sich nachspürt, was sein tiefes Anliegen an unsere gemeinsame Arbeit hier ist.“
Wenn wir über unsere Gestaltungsanliegen und Bedürfnisse sprechen, befinden wir uns primär im motivationalen Kohärenzmodus. Anders ist es, wenn wir die Missstände fokussieren, anklagen und detektivisch analytische Ursachenforschungen betreiben – dann befinden wir uns im motivationalen Aversionsmodus. Im Kohärenzmodus können die positiv formulierten Anliegen bei den Kolleginnen Resonanz finden, diese zum Mit- und Weiterdenken anregen und ein kokreativer Gruppenprozess kann in Gang kommen.
Die „negativen“ Beobachtungen als Herausforderungen berücksichtigen
Die kritisch gesehene Realität findet erst dann Beachtung, wenn wir unser Gestaltungsanliegen gemeinsam visualisierend entfaltet haben. Dann können wir überlegen, wie wir uns zu den gegebenen Bedingungen und Top-down-Vorgaben im Bildungswesen, zur Ökonomisierung, Umweltzerstörung, Pathologisierung und Bürokratie im Gesundheitswesen, der Berichterstattung in den Medien usw. stellen wollen, um unsere Gestaltungsanliegen voranzubringen.
* Um den Geschlechtern in der Sprache halbwegs gerecht zu werden, ohne den Schreib- und
Lesefluss zu sehr zu verkomplizieren, wird hier im Plural immer die weibliche Form verwendet, es
sei denn, es handelt sich ausschließlich um Männer, und im Singular entsprechend der bislang
üblichen Schreibweise die männliche Form, es sei denn, es handelt sich explizit um eine Frau.
Danke Theo, was für ein wunderbarer Blog-Artikel. Meinen Wunsch in einer Gruppe (die scheinbar keine konkrete Intention hat) zu äußern, finde ich sehr ansprechend. Erst gestern bei einem Frühstücksgespräch mit Menschen, die sich nach einer Feier getroffen hatten, habe ich ringend versucht, den „Dreh“ vom Negativen (Destruktiven) zum Positiven (Konstruktiven) hinzubekommen, ohne mich dabei zu überhöhen. Meinen Wunsch, erst im stillen für mich zu formulieren und dann in die Runde zu bringen (auch frei von Erwartung), das möchte ich integrieren lernen. DANKE und Liebe Grüße Sandra