Die Entwicklung ist nicht eine Leistung unabhängiger Anlagen oder Entwicklungsmaschinen, sondern vom Ganzen beherrscht.
Ludwig v. Bertalanffy (1949,1990), S.65

Wir leben mehrdimensional

Ein Mensch entsteht im Bauch einer Frau als Produkt sexueller Kooperation von Frau und Mann, von Ei- und Samenzelle. Er wird geboren mit einer Erwartung oder Hoffnung, dass er eine aufbauend kooperative Umgebung mit hinreichend genug Sauerstoff, Wärme nd Nahrung findet (die auf 3 Mrd. Jahre Erfahrung in der Evolution beruht). Er wird geboren in eine menschliche Gemeinschaft, von der er auch aufbauende Kooperation erwartet. Diese wiederum wird wie die Umgebung stark von der Kultur geprägt, in der wiederum Kooperation zum Wohle der Menschen stattfinden soll. Alle sind um mehr als bloßes Überleben, nämlich um ein gutes Leben auf der Erde in der Biosphäre bemüht, das Entwicklung einschließt.

So ist ein Mensch von Beginn an – sowohl im Rahmen der biologischen Evolution als auch in seinem jetzigen Leben – ein Teil größerer Einheiten, ein Teilsystem von Übersystemen. Diese prägen stark seine Entwicklung und seine Art der Kooperation, der Beziehungen. Andersherum gestaltet er mehr oder weniger stark seine Übersysteme mit.

Wenn wir nach der gesunden Entwicklung, der Salutogenese des Menschen fragen, müssen wir folglich immer auch seine Beziehungen zu seinen Übersystemen miteinbeziehen. Ein Mensch ist ein Produkt seiner mehrdimensionalen Kooperationen und Kommunikation. Wie wir im Weiteren sehen werden, genügt dazu ein „biopsychosoziales Krankheitsverständnis“ nicht.

Der Biologe Bertalanffy gilt als Begründer der Systemtheorie, die jedes Individuum und noch kleinere Systeme wie Zellen und Genome als Teile eines größeren Ganzen gesehen und verstanden hat. Mit seiner Sichtweise hat er schon die überragende Bedeutung der jetzt neu aufgekeimten Epigenetik vorausgenommen, die feststellt, wie stark der Einfluss äußerer Bedingungen auf die Aktivität und sogar auch Struktur unserer Gene ist – wie stark die Umwelt das prägt, was aus unserer genetischen ‚Hardware‘ entsteht. Im Laufe von Milliarden Jahren hat die Epigenese auf diese Weise zur Evolution des Lebens bis zum Menschen, also auch zur Entwicklung der genetischen ‚Hardware‘ beigetragen. Auch wenn wir die Beziehungen zwischen dem Teil und dem Ganzen heute differenzierter verstehen können als er es mit „beherrscht“ ausgedrückt hat, bleiben viele seiner Aussagen grundlegend für die moderne Systemtheorie.

Systemische Resonanzen

Hilfreich, dynamisch und neu für ein Verstehen der Beziehung zwischen dem Teil und dem Ganzen ist der Begriff ‚Resonanz‘. Ein Kind entwickelt sich in Resonanz zu seinen Eltern und den Regeln der Familie und Kultur sowie zur Umwelt bis hin zur Biosphäre und auch in Resonanz zum Sonnenlicht. (Schrödinger, Quantenphysiker und Nobelpreisträger, hat schon die These vertreten, dass die Entstehung der lebendigen Ordnung in der Evolution als Resonanz auf die Ordnung/Kohärenz des Sonnenlichtes entstanden ist.) Resonanz ist nur dort möglich, wo es Kohärenz gibt.

Resonanz ist ein Mitschwingen in der Eigenschwingungsfähigkeit. Das Teil ist in Resonanz zum Ganzen, auch zu verschiedenen Übersystemen. Wenn viele Teile in ähnliche Resonanz geraten, verändern sie zunächst das direkte Übersystem, das naheliegende Ganze. So gibt es eine ständige Wechselwirkung zwischen dem Teil und dem Ganzen – keine einseitige „Herrschaft“. So verändert sich die Familie, wenn ein Kind dazu kommt. So verändert sich ein Mensch, wenn z.B. seine Leber krank ist. Wenn viele Menschen eine neue Idee vertreten, können sie die Politik bzw. Kultur verändern. Arthur Köstler hat für diese Art der Ordnung in Anlehnung an Hierarchie den Begriff „Holarchie“ geprägt – eine Ordnung von Ganzheiten („Holons“), die wie die russische Puppe Matroschka ineinander geordnet sind – allerdings miteinander wechselwirken.

System- oder Lebensdimensionen

Jedes System zeichnet sich durch seine Kohärenz aus. Wird diese aufgelöst, zerfällt das System. Einzelne Systeme ähnlicher Konsistenz (z.B. Steine) unterscheiden sich in Feinheiten ihrer physikalisch-chemischen Kohärenz. Einzelne Familien wiederum unterscheiden sich in ihrer Kohärenz durch unterschiedliche emotionale Kommunikationsmuster. Weiter können wir Dimensionen von Kohärenz unterscheiden: Die Kohärenz eines Steines ist eine andere als die eines Lebewesens oder die einer Familie oder einer Kultur.

Wenn wir bei den kleinen Holons als Bausteinen der Biosphäre beginnen ergibt sich folgende Ordnung von Systemen in System- oder Lebensdimensionen LD nach gut unterscheidbaren Dimensionen der Kohärenz:

    0. Atome – Moleküle: materielle LD

  1. Einzeller – Zellteilung: vegetative LD
  2. Mehrzeller – paarige Vermehrung  – soziale Verbände – Familien: soziale LD
  3. Kulturen: kulturelle LD
  4. Menschheit – Biosphäre – Gaia: globale LD
  5. Sonnensystem – Galaxie – Universum: universale LD

In jeder Lebensdimension wird die Kohärenz (der Zusammenhalt) der Systeme durch unterschiedliche Kommunikationsweisen bestimmt.

Information und Energie

Resonanz ist die Basis für Kommunizieren, für Mitteilen und Verstehen, für Mitgefühl, Mitdenken und Kooperation. Der Psychotherapeut und Neuropsychologe J. Bauer würde die Spiegelneuronen treffender ‚Resonanzneuronen‘ nennen (2004). Ein System kann resonieren, wenn es in einer passenden Wellenlänge schwingen kann – „auf gleicher Wellenlänge ist“. Bei Resonanz und Kommunikation übernimmt ein System von einem anderen System Informationen – ggf. viele Informationen bei nur wenig Energieaufwand. Bei dem quantenphysikalischen Phänomen der ‚Verschränkung‘ (s. EPR-Experiment) werden sogar Informationen übermittelt ohne nachweisbare Energieübertragung. Bei Resonanz und Kommunikation scheint es daher angebracht zwischen Energie und Information zu unterscheiden.

Ähnlich ist für die Information kein Aufwand von Energie erkennbar, wenn wir von der Existenz von Attraktoren ausgehen, die dynamische Prozesse in eine Form bringen. Es scheint eher so, als würde die Information des Attraktors Energie anziehen – also attraktiv für Energie sein. Ganz analog, wie unser Verhalten mit großem Energieaufwand manchen Gedanken (die für sich betrachtet wenig Energie aber viel Information haben) folgen kann (vgl. auch „Spiegel“ Nr. 21/2013 „Der heilende Geist“).

Auf diese Weise können wir ein neues Verständnis entwickeln, wie durch Information aus chaotischer Energie (= Masse) geordnete Formen entstehen können. Attraktoren sind im Chaos verborgene, ordnende Informationen – ein Ordnungspotential. Der Quantenphysiker David Bohm spricht von einer „impliziten Ordnung“. Obwohl das dem bisherigen naturwissenschaftlichen Denken, wie wir es in der Schule gelernt haben, widerspricht, stimmt es mit unseren Alltagserfahrungen viel besser überein: Wenn wir gut informiert sind oder guten Zugang zur Intuition haben, können wir unsere Umgebung besser strukturieren.

Gesunde Entwicklung in Resonanz

Bei einem derartigen Verständnis von Resonanz zwischen Systemen und Systemdimensionen können wir den Mensch als Ganzheit begreifen – nicht getrennt in Körper und Psyche, wie der Systemtheoretiker Luhmann es noch gemacht hat. Ein einzelner Mensch ist in mehrdimensionaler Resonanz: mit der materiellen Umgebung (physikalisch-chemische Wechselwirkungen), der lebenden Umwelt (Stoffwechselregulation), sozialen Mitwelt (Emotionen), der Kultur (Gedanken) und der Menschheit sowie Biosphäre bis zum Universum (Intuition, Inspiration). Psyche ist die Gesamtheit seiner mehrdimensionalen Resonanz.

Wie die Evolution auf der Erde im Laufe von Milliarden Jahren immer komplexere Gebilde wie z.B. das menschliche Gehirn hervorgebracht hat, so entfaltet ein Mensch in seinem Leben immer komplexere Kommunikationsweisen als Resonanz auf seine Übersysteme. Mit ‚gesunde Entwicklung‘ ist demnach eine aufbauende Resonanz und stimmige Annäherung an die immer komplexere Kohärenz größerer Systeme gebunden. Dabei gehört die Gestaltung der Systeme natürlich zur Resonanz und Annäherung (im Unterschied zu reiner „Anpassung“ wie es oft von Evolutionsbiologen und Psychologen genannt wird). Menschen kooperieren bei der Gestaltung der Umwelt und Kultur – heutzutage erstmals in der Geschichte der Menschheit beim Einfluss auf die Biosphäre (leider noch nicht besonders erfolgreich). Bei der Annäherung sowohl individuell als auch kulturell an größere komplexe Verbundenheit (Kohärenz) müssen wir immer wieder auf Stimmigkeit durch alle Lebensdimensionen achten. Wenn wir eine Dimension nicht hinreichend beachten, meldet sie oft eine Störung im Betrieb.

Das, was wir ‚Erkrankungen‘ nennen, kann dem betroffenen System eine Information geben, was es zu lernen hat, um wieder auf den Weg gesunder Entwicklung zu kommen: mehr Stimmigkeit zu finden in Bezug/im Verhalten zu sich selbst, seinen nahen Mitmenschen, seiner Kultur (Sprache, Beruf, Politik, Ökonomie usw.) und/oder zur Biosphäre, der Menschheit – für viele auch zu „Gott“.

Wachstum und Altern

Für die kindliche Entwicklung und das Wachstum und die Reifung ist die gegebene Definition von gesunder Entwicklung als „aufbauende Resonanz und stimmige Annäherung an immer komplexere Kohärenz“ plausibel und einleuchtend – auch für Lernprozesse.

Wie ist es beim Altern?

Gehen wir Schritt für Schritt. Mit einem Verständnis systemischer Resonanz sehen wir, dass jeder Mensch bei gesunder Entwicklung mehrere große und kleine Übergänge von der Kohärenz eines Übersystems in ein Größeres durchlebt. Derartige Kohärenzübergänge werden in der psychologischen Literatur auf das Individuum bezogen als psychische oder auch Bewusstseins-Übergänge bezeichnet.

Die großen Kohärenzübergänge im Leben sind folgende: der Übergang aus dem Mutterleib in die zwischenmenschlichen Beziehungen bei und nach der Geburt; der Übergang von der familiären emotionalen Geborgenheit und Fürsorge in die (Eigen-)Verantwortung in der Kultur und Reproduktion während und nach der Pubertät; die sog. ‚Midlife-Krise‘ als Übergang von der direkten familiären, reproduktiven Verantwortung in den dritten Lebensabschnitt zur Altersweisheit und das Sterben als Übergang in eine gänzlich ungewisse, womöglich meta-physische Kohärenz.

Der große Kohärenzübergang im dritten Lebensabschnitt wird in den hochzivilisierten Ländern überwiegend negativ als ‚Aging‘ gesehen, dem man entgegen wirken muss. Oder gilt es, im Alter eine noch komplexere Kohärenz zu finden? Gibt es dann womöglich einen Kohärenzübergang in Richtung Integration von Lebenserfahrungen in den Lebensdimensionen, von Bedürfnissen, Emotionen, Wissen, Glauben – Sinnerfüllung – Weisheit?

Ist der gesunde Alterungsprozess wirklich hauptsächlich ein entropischer Zerfallsprozess, wie Antonovsky noch meinte? Oder ist er vielmehr ein Übergang zu einer komplexen Kohärenz mit einer inneren Integration und Weitsichtigkeit, einer Resonanz auf geistig-globale Zusammenhänge? Möglicherweise wird diese Resonanz erleichtert gerade durch ein Nachlassen körperlicher Agilität, eigener Bedürftigkeit und der Identifikation damit.

Viele Kulturen wertschätzen alte Menschen besonders und haben Ältestenräte, von denen ein solcher Kohärenz-/Bewusstseinsübergang gefordert wird und denen er zugetraut wird.

In mittel- und südamerikanischen Kulturen sind Wechseljahres-beschwerden den meisten Frauen unbekannt, obwohl sie die gleiche Hormonumstellung durchmachen wie die Frauen hier. Man nimmt an, dass es darin begründet liegt, dass alte Frauen nach den Wechseljahren besonders wertgeschätzt werden. So haben sie Grund, sich auf das Altern zu freuen. Die Kultur fördert somit diese Freude, den Kohärenzübergang und damit die Gesundheit der Frauen.

So wird hier deutlich, wie außer den ökonomischen Bedingungen auch die Normen und Werte, die in einer Kultur kommuniziert werden, die die Kohärenz einer Kultur ausmachen, die gesunde Entwicklung der Menschen beeinflussen. Menschen einer Gesellschaft befinden sich in Resonanz zu ihrer Kohärenz – sie sind in ständiger Kommunikation mit ihr.